Cover
Titel
Niedopowiedziane biografie. Polskie dzieci urodzone z powodu wojny


Autor(en)
Gałęziowski, Jakub
Erschienen
Anzahl Seiten
512 S.
Preis
zł 62,91
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Teresa Willenborg, Hannover

Im Rahmen des EU-Forschungsprojektes „Children Born of War (CBOW) – Past, Present, Future“ untersuchten fünfzehn Doktorand:innen die Lebens- und Sozialisationsbedingungen von CBOW in verschiedenen raum-zeitlichen Kontexten. Mit Blick auf Polen greift Jakub Gałęziowski in seiner polnischsprachigen Dissertationsschrift, dessen Titel sich mit „Unerzählte Biografien. Polnische Kinder, die wegen des Krieges geboren wurden“ übersetzen lässt, Themenkomplexe auf, die von hoher wissenschaftlicher Relevanz sind, im öffentlichen Diskurs bislang aber ausgeblendet wurden. Sein Forschungsinteresse richtet sich auf die Kinder selbst, auf Mutterschaft als Folge von sexualisierter Gewalt oder von Beziehungen mit ausländischen Partnern während des Zweiten Weltkrieges beziehungsweise in der unmittelbaren Nachkriegszeit sowie die Verdrängung dieser Themen aus der (polnischen) Öffentlichkeit. Als Experte für Oral History greift Jakub Gałęziowski dafür auf narrative Interviews zurück und kombiniert diesen methodischen Zugang mit einer Analyse von bislang unveröffentlichten Quellen aus staatlichen und kirchlichen Archiven. Ohne dass er daraus ausführlich zitiert, erlaubt ihm insbesondere das Interviewmaterial, die Selbstzuschreibungen und Bewältigungsstrategien einer Gruppe zu analysieren, die bisher kaum Beachtung fand.

Im ersten Kapitel des Buches widmet sich der Verfasser der Genese und Konsolidierung des vergleichsweise jungen Forschungsfeldes „Children Born of War“, das sich erst in den 2010er-Jahren und zunächst in Norwegen etabliert hat. Er stellt die Ursprünge und den Einsatz von sexualisierter Gewalt gegen Frauen als Kriegstaktik in bewaffneten Konflikten im internationalen Kontext dar und diskutiert den gesellschaftlichen und rechtlichen Status von Kindern, die aus sexueller Gewalt hervorgegangen sind. En passant skizziert Gałęziowski so die dynamische Entwicklung des Forschungsfeldes in Europa und darüber hinaus, wobei sein eigenes Interesse vor allem den „Besatzungskindern“ in Deutschland gilt.1 Am deutschen Beispiel diskutiert er die Verschiebung des Forschungsfokus von den „Kriegs-“ zu den „Besatzungskindern“, welche im deutschen Erinnerungsdiskurs eine „positive Rolle als Kriegsopfer“ eingenommen und eine „Lücke im (deutschen) Diskurs über den Zweiten Weltkrieg“ gefüllt hätten (S. 60f.). Die europäische Entwicklung bildet den Hintergrund für die Einordnung seiner eigenen Forschung in Polen.

Das zweite Kapitel fokussiert Ursachen und Auswirkungen der Tabuisierung von „Kriegsbeziehungen“ beziehungsweise sexualisierter Gewalt, die eine Mutterschaft zu Folge hatten. Als Ursprung der Verdrängung identifiziert Gałęziowski politisch-ideologische Motive der kommunistischen Machtelite. Er schließt damit an die Forschung von Maren Röger an2 und räumt gleichzeitig dem kulturellen Kontext eine übergeordnete Rolle ein. Seine These begründet er mit der konservativen Sichtweise der Gesellschaft, die sexuelle Beziehungen mit (deutschen) Besatzern sowie ausländischen Soldaten aus dem öffentlichen Diskurs ausschloss oder dazu führte, dass Vergewaltigungsopfer als „unreine Frauen“ angeprangert wurden (S. 96). Gepaart mit der pragmatischen Politik des Staates, der die Sexualverbrechen der sowjetischen Soldaten nicht ans Licht bringen wollte, um eine offene Konfrontation mit Moskau zu vermeiden, habe das Bündel von Motiven zur Entstehung eines „Schleiers des Schweigens“ (S. 96) beigetragen, an der sich auch die katholische Kirche beteiligt habe. Hier betont der Verfasser die ambivalente Haltung der Kirche: Einerseits führte sie gemeinsam mit dem Staat eine aggressive Kampagne gegen Schwangerschaftsabbrüche, um die kriegsbedingten Bevölkerungsverluste zu kompensieren. Andererseits akzeptierte sie stillschweigend die in beträchtlicher Zahl durchgeführten Abtreibungen bei Opfern sexueller Gewalt. Dieses von oben beschränkte, selektive Erinnern überschnitt sich mit der Haltung von lokalen Gemeinschaften und den betroffenen Familien. Der Pakt des Schweigens hatte nachhaltige Folgen und zeigt sich bis heute in Stigmatisierung und Diskriminierung der Betroffenen. Zugleich betont Gałęziowski, dass das Thema dennoch als „elephant in the room“3 präsent (gewesen) sei und führt einige jüngere Versuche an, das gesellschaftliche Tabu in den Bereichen Kunst, Literatur und Film zu brechen. In vergleichender Perspektive richtet er den Blick auch auf die DDR und Ungarn und zeigt, dass sexualisierte Gewalt und ihre Folgen in diesen Ländern ebenfalls beschwiegen wurden.

Den polnischen CBOW wendet sich der Verfasser im dritten Kapitel zu und betritt damit wissenschaftliches Neuland. Das Fehlen von einschlägiger (polnischer) Fachliteratur und damit auch eines adaptierbaren Analyserasters erwies sich als erhebliche Herausforderung bei der Abgrenzung dieser Gruppe von anderen „Kindern des Kriegs“. Als zusätzliche Schwierigkeit benennt Gałęziowski die spezifische polnische Kriegs- und Nachkriegssituation, die sich von jener in Westeuropa signifikant unterschieden habe. Die Besonderheit sieht er in der nationalsozialistischen Rassenideologie begründet, die die polnischen Frauen in der gesellschaftlichen Rangordnung unter West- und Nordeuropäerinnen stellte. Im Vergleich mit Beispielen aus Norwegen, Frankreich, Dänemark und Finnland modifiziert er die westeuropäische Definition von CBOW und entwickelt ein eigenes Kategoriensystem, das sich auf geografische, zeitliche und rechtliche Indikatoren stützt. Als polnische CBOW betrachtet der Autor demnach Personen, die gegen Ende des Zweiten Weltkrieges und in der unmittelbaren Zeit danach als Kinder deutscher Besatzer, sowjetischer Soldaten, Kriegsgefangener oder alliierter Soldaten in oder außerhalb Polens geboren wurden. Auch Kinder von polnischen Zwangsarbeiterinnen, Displaced Persons und der autochthonen Bevölkerung (Schlesierinnen, Masurinnen und Kaschubinnen polnischer und deutscher Staatsangehörigkeit) zählt er dazu. Diese Kategorisierung lässt sich kontrovers diskutieren, stellt aber zweifelsohne eine wichtige methodische Grundlage für weitere Forschungen dar. Insbesondere die Perspektiverweiterung auf Zwangsarbeiterinnen und DP erweist sich als folgenreich, denn mit ihr gerät auch das Thema der Verschleppung polnischer Kinder (und ihrer Rückholung aus Deutschland und Österreich) in den Blick. Dabei liefert Gałęziowski zugleich neue Impulse für die Fachdebatte zu den verschleppten polnischen Kindern, indem er die im polnischen Diskurs allgemein akzeptierte Zahl von bis zu 200.000 revidiert und darauf hinweist, dass viele der „Rückgeführten“ erst nach dem Krieg in den Besatzungszonen geboren wurden.

Etwas bedauerlich ist, dass Leser:innen erst im letzten Kapitel des Buches mehr über den zeitlichen, geographischen und methodischen Rahmen der Studie sowie die emotionalen und ethischen Aspekte erfahren, die den Autor während seiner langjährigen Forschungstätigkeit begleiteten. Hier reflektiert er die Schwierigkeiten, mit denen er in seinem Oral-History-Projekt bei der Beschaffung des Materials konfrontiert war, sowie ethische Fragen und Grenzen des Forschungsprozesses. Im Nachwort fasst er schließlich seine Befunde zusammen, indem er aus der Perspektive der polnischen CBOW und ihrer Mütter einen Blick auf deren heutige soziale, rechtliche und gesellschaftliche Stellung in der Gesellschaft wirft. Gałęziowski weist dementsprechend auf eine lange Reihe von Desideraten für vertiefende Forschungen hin, darunter Resilienz und Anpassungsstrategien von Müttern und Kindern, die aus Vergewaltigungen geboren wurden.

Die Studie von Jakub Gałęziowski, die 2023 mit dem Tomasz-Strzembosz-Preis für das beste Buch zur neueren Geschichte Polens ausgezeichnet wurde, bietet weit mehr als der Titel des Buches signalisiert. Neben einem Einblick in die zahlreichen „unerzählten Biographien“ polnischer CBOW liefert er eine übergreifende Analyse unterschiedlicher damit verbundener Themenkomplexe. Dass sich der Verfasser an einigen Stellen wiederholt, schmälert nicht den Wert der Pionierarbeit, mit der Gałęziowski einen wichtigen Beitrag zum Verständnis geschlechtsspezifischer Gewalt und der Stigmatisierung einer gesellschaftlichen Randgruppe leistet. Zugleich lässt sich das Buch als Plädoyer für die Auseinandersetzung mit unbequemen Aspekten der eigenen Geschichte lesen. Nicht nur wegen der großen empirischen Bereicherung des neuen Forschungsfelds gehört die Studie von Jakub Gałęziowski zu jenen Werken, die zum Weiterdenken anregen.

Anmerkungen:
1 Silke Satjukow / Rainer Gries, Bankerte! Besatzungskinder in Deutschland nach 1945, Frankfurt am Main 2015.
2 Maren Röger, KriegsBeziehungen. Intimität, Gewalt und Prostitution im besetzen Polen 1939 bis 1945, Frankfurt am Main 2015.
3 Eviatar Zerubavel, The Elephant in the Room. Silence and Denial in Everyday Life, Oxford 2006.

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